Nach demallgemein sehr verhalten aufgenommenen Eröffnungsfilm AMOROSA SOLEDADvonMartin Carranza und Victoria Galardi, dem auch Inés Efron als sichselbstsuchende junge Frau mit selbstauferlegtem Beziehungsverbot keinenbesonderenDrive geben konnte, startete der Wettbewerb um den Grossen Preis „Coupde Coeur“mit dem Fischkind, EL NIÑO PEZ der Argentinierin Lucia Puenzo,ebenfalls mitInés Efron in der Hauptrolle.
Lucia Puenzohatte2007 mit „XXY“ (auch mit Inés Efron) ein beachtlichesDebüt gezeigt, eine berührende Geschichte um einezweigeschlechtliche Jugendliche und ihre Entwicklungsverwicklungen. Mitihrem zweitenFilm EL NIÑO PEZ, der schon bei der "Berlinale" zu sehen war, übernimmtsichdie Argentinierin allerdings: Neben einer lesbischenBeziehungsgeschichtewerden u.a. Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Vertretern derbürgerlichenSchichten und ihrer Hausangestellten, Vergewaltigung durch den Vater,märchenhafte Elemente um das in einem See ausgesetzte Fischkind, MordundSuizid, die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Argentinien undParaguaysowie die Situation in Mädchenheimen und Frauengefängnissen in 96 dannwirreMinuten gezwängt.
Ebenfalls vielzuviel wollte der Kolumbianer Jorge Echeverri in LA VOZ DE LAS ALASstecken. 40Jahre kolumbianische Geschichte, Klassenkämpfe und Inzestbeziehungen,Guerillaund Familienzwist, Sexualität und Kindheitstraumata bilden eineMischung, die denZuschauer zunächst überfordert und dann langweilt.
Die alsbrasilianische Hommage an John Cassavetes’ „Gloria“ angekündigteGeschichte derLehrerin VERONICA habe ich nicht sehen können. Kollegen sprachenallerdingsvon einer zu engen Anlehnung an das Vorbild durchMauricio Farias, der vor allem mit TV-Serienepisoden für denbrasilianischen Sender Globo-TV bekannt wurde und der mit VERONICAseinenzweiten Spielfilm nach Toulouse brachte.
Stolz ist manhier in Toulouse, dass diesmal ein Spielfilm aus Ecuador zu denWettbewerbsfilmen gehört. Schliesslich werden dort nur zwei oder dreiLangfilmeim Jahr produziert. Der symphatische Mateo Herrera stellt mit IMPULSOseinenvierten Film vor, eine in meist gut komponierten Schwarz-Weiss-BildernerzählteGeschichte einer 17jährigen. Jessica ist Hardrock-Fan und sucht ihrenVater,den sie seit mehr als 10 Jahren nicht gesehen hat. Die Suche führt sieaufsLand, auf die Finca ihres Onkels, der als Veterinär nicht nur Tiereversorgt.Dort findet sie zwar nicht ihren Vater, dafür aber einen etwagleichaltrigenCousin. Naheinstellungen von Obstkörben, Springerstiefeln und zerissenenJeansals Gruppenabzeichen, eines Sony-Cassettenrecorders, der erstmal lautbrummt,bevor die harte Musik einsetzt, Blicke auf Treppen, Bücherregale undziegelbedeckteDachfirste: Regisseur Herrera hat sich viel einfallen lassen um nicht zulangweilen. Doch die meist sehr einfachen, platten Dialoge und die sehrgesuchtin Szene gesetzten mystischen Aspekte derGeschichte lassen den Betrachter immer wieder aus demFilm herauskippen, so dass ein zwiespältiger Eindruck zurückbleibt.MateoHerrera ist sich dieses Mankos durchaus bewusst und so suchte er in denGesprächenauf dem Festival mit französischen Produzenten, die Filme mitLateinamerikanernmachen wollen, und Kollegen aus anderen Ländern vor allem nach einemgutenDrehbuchautor, mit dem er kooperieren könnte. Bilder mit der nötigenKraftfindet Herreo auf jeden Fall.
Beides,Geschichteund Form stimmen in der argentinischen Parodie auf den Kunstbetrieb ELARTISTA von Mariano Cohn und Gaston Duprat. Der Krankenpfleger JorgeRamirezreicht die Bilder eines Patienten, des autistischen Alten Romano, beieineranerkannten Galerie ein und wird zu einem Star der Kunstszene, derüberallherumgereicht wird. Drehbuchautor Andrès Duprat ist selbst Kunstkuratorund hatmit viel Sinn für Humor entlarvende Sprüche und Kommentare zuraktuellenKunstzusammengetragen und den Betrachtern der „Werke“ von Ramirez/Romano inden Mundgelegt. Mit Zitaten um sich werfend stehen diese dann vor den Bildernund derKinozuschauer sieht sie sozusagen durch die Bilder, betrachtet dieBetrachter.Diese Perspektive wird immer wieder eingesetzt, auch als Jorge RamirezundRomano Passfotos machen müssen, weil Ramirez nach Rom eingeladen wird.Sieverliert ihren Reiz auch deshalb nicht, weil sie ergänzt wird vonBildern auf kathedralenhaftaufsteigende Bücherregale (bei einem Kunstprofessor und Förderer vonRamirez,gespielt vom Drehbuchautor A. Duprat selbst), von einem verlorenzwischenweiss-grauen Stuhlreihen sitzenden unbeholfenen Künstler Ramirez, vondenVeränderungen die das Aussehen des „Künstlers“und seiner Wohnung (weg vom blümchenbesetztenPril-Stil zu klarem, nacktem Weiss!) erfahren. In dem was er sagt,bleibt JorgeRamirez die ganze Zeit gleich, bei sich: Wortkarg, einige angelernteSprechhülsen nutzend, oft schweigsam. „Seine brilliante Antwort auf dieSinnfrage des Werkes: Silencio absoluto!“, ist eine engagierte Expertinbegeistert, die durch seine erste Einzelausstellung führt. KunstkuratorundGelegenheitsdrehbuchautor Andrès Duprat will die eigene Welt nicht nurkritisieren, sondern zeigen, mit allen ihren Snobismen,Missverständnissen undWichtigtuereien. Diese Welt fasziniert ihn und stösst ihn gleichzeitigab. ZumGelingen des Films trägt auch die Sorgfalt mit dem Ton bei, etwa derletzteSchwung des Striches, wenn wir Romano (wieder aus der Perspektive desentstehenden Werkes selbst) nicht nur sehen sondern diesen Schwung auchalseindringlichen Kratzer auf dem Papier hören.
GALLERO desArgentiniers Sergio Mazza ist für mich ein weiterer Anwärter auf denGrossenPreis „Prix du Coeur“ oder den Publikumspreis. Die Liebesgeschichte mittragischen Elementen bringt den rund 45jährigen alleinstehendenKampfhahnzüchter Mario mit der verwitweten Julia zusammen. Das alles ineinerkargen, ärmlichen Landschaft (der Region Catamarca), auf dem Land ineinfachen,bescheidenen Häusern. Sehr langsam und bedächtig geschieht dieseAnnäherung,die von einfachen Hilfen, dem Reparieren des Hausdaches oder einesGasherdesausgehen und sich über wortkarges aber doch festliches gemeinsames Essenfortsetzt. Mehr zu seinem Film gibt es hier nachdem ich Segio Mazzainterviewthabe, der vor der Auffürung in der Toulouser Cinematheque das Publikumwarnte:sehr langsam, manchmal schwer zu ertragen sei sein Film. Wie unrecht erdochhatte!
Der siebtevorgesehene Wettbewerbsfilm, der chilenische Beitrag LA NANA (DieHausangestellte) wurde hier zwar mit grossen Erwartungen angekündigt.Die Kopieist aber irgendwo verschollen und es bleibt fraglich, ob sie bis zurzweitenvorgesehenen Aufführung am Freitagabend eintrifft. PhilippeCourtemanche, neuerPräsident des veranstaltenden Vereins A.R.C.A.L.T. hatte gesternzumindest nochkeine Ahnung, was mit der Kopie geschehen ist.
Herzlichen Dank an Michael Luppatsch
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