Im zweiten und letzte Teil des Berichts zu neuen lateinamerikanischenFilmen, die beim 59. Festival internazionale del Film LocarnoPremiere gefeiert haben, stellt Ute Mader heute je einen Film ausBrasilien und Chile vor. Beide zeichnen sich durch ihre unorthodoxeHerangehensweise aus, was sowohl die Themen als auch deren filmischeUmsetzung betrifft. In Locarno sind sie in der Sektion 'Cinéastesdu Présent' gelaufen.
RABIA–Von der Wut der Arbeitssuchenden in Chile
von Ute Mader
RABIAvon Oscar Cárdenas ist ein Low Budget-Film wie aus demBilderbuch, der trotz geringer Mittel seine Zuschauer zu bannenvermag. An nur zwei Tagen mit zwei Mini DV-Kameras und siebenPersonen gedreht, thematisiert der Film die Geschichte von CamilaSepúlveda, die seit einem Jahr vergeblich eine Stelle alsSekretärin sucht. Die sechs Kapitel von RABIAvermitteln dem Zuschauer, was die Vorstellungsgespräche und dieVorbereitung darauf für die junge Frau bedeuten. Die Suche nachIdentität, nach Glück steht dabei für Camila ganz imVordergrund. Cárdenas selbst hat einige Kurzfilme gedreht, dasInternetfilmmagazin „Voraz“ in Chile gegründet und ist nacheigener Arbeitslosigkeit nun Dozent an der Filmhochschule inSantiago.
Wiewar denn eure Arbeitsmethode bei dem Projekt?
Wir arbeiten mit geringen Budgets undsuchen nach Arbeitsmethoden, die neu sind und sich mit solchenBudgets bewerkstelligen lassen. Es sind einfache Geschichten mitreellen Personen. Die Geschichten der Mittelklasse haben keinen Platzin solchen Filmen.
Wir haben mit den sechsSchauspielerinnen lange gearbeitet, sie wurden interviewt und konntensich in einen Blog einloggen. Damit konnten sie sich auf ihre „Wut“vorbereiten. Camila führte ein Tagebuch, das ich für sieredigiert habe. So konnte sie ihre Frustrationen mit jemandem teilen.Am ersten Tag wussten die Arbeitssuchenden z.B. nicht, wie sieangezogen sein sollten und die Situation war genau so, als würdensie zu einem richtigen Vorstellungsgespräch gehen. Für michwar angenehm, mit wenigen Leuten zu arbeiten und mit einer kleinenCrew auszukommen. Das ist der Vorteil der digitalen Technik. Fürden Schnitt haben wir fünf Tage benötigt. Mir kommt esdarauf an, möglichst nah an den Menschen zu sein, vor allem nahan ihrer sozialen Situation. Wir arbeiten mit unbekanntenSchauspielern von der Schule, die niemand kennt. Das Drehbuch istimprovisiert und wenig festgelegt. Man kann diese Methode als hybrideArbeitsweise bezeichnen.
Gibtes in Chile einen Verleih für den Film?
In Chile kommen 12 bis 15 Filme im Jahrim 35-mm Format ins Kino, von denen kommerziell nicht vielefunktionieren. RABIA soll aufneue Art, nicht nach der Lehre der Filmhochschule, also nichtmaterialorientiert, sondern digital vorgeführt werden. Der Filmwird nächstes Jahr in Chile herauskommen.
Fehltes in Chile an Sprache, da im Film so wenig gesprochen wird?
Ichdenke, das ist ein generelles Problem Lateinamerikas. Wir sprechensehr schnell und wenig. Die Sprache ist schlecht zu verstehen, daviele Abkürzungen benutzt werden. Ich meine, dass der Film sichan die soziale Realität Chiles anpasst. Das Bild und die Formtragen zum Verständnis bei und die neue Generation vonFilmemachern in Chile entwickelt eine neue Bildsprache. Durch dieseneue Generation entsteht eine ganz andere Art von Filmen. Wir kommenfast alle von der gleichen Schule und haben eine ähnlicheEinstellung zum Film. Wir sind sechs oder sieben Leute und was unsverbindet, ist, Kino ohne Angst zu machen. Wir treffen uns zwanglosund trinken ein Bier zusammen.
ACIDENTE - Eine Landkarte Brasiliens, dem Zufall der Poesieüberlassen
von Ute Mader
AuchACIDENTE von Pablo Lobato und CaoGuimarães wurde in derSektion 'Cinéastes du Présent', in einem Doppelprogrammmit dem Kurzfilm SILÊNCIO von Sérgio Borges,präsentiert. ACIDENTE fängt filmischeine Karte Brasiliens in der Region Minas Gerais ein, die die Namenvon 20 Orten aufgreift, sie poetisch ins Geschehen mit einbezieht undso ein Gitter von zufälligen Spuren legt. Augenblicke destäglichen Lebens werden als kompositorische Herausforderung mitschönen, klaren Bildern präsentiert. Von Cao Guimarãeslief in Locarno bereits vor zwei Jahren der Film RUA DE MÃODUPLA. Er ist international als Künstler anerkannt und hat sichim Filmbereich vor allem auf experimentelle Dokumentationenspezialisiert. Pablo Lobato ist als Mitglied im Netzwerk TEIAengagiert, das sechs Filmemacher vertritt. Er ist zudemGründungsmitglied des Zentrums für audiovisuelleExperimente und Forschung in Belo Horizonte. Auch er wurde mitinternationalen Preisen für seine bisherigen Werkeausgezeichnet.
Woraufberuht der kreative Prozess und wie kam die Auswahl der Themenzustande?
Pablo:Wir kommen beide aus der Gegend von Minas Gerais. Ich wuchs in BomDespacho auf, im Innern dieser Region und Cao verbrachte dort einigeZeit bei seinem Großvater. Wir fanden bei unseren Diskussionenheraus, dass uns der triviale Rhythmus des täglichen Lebens vorallem in den kleinen Orten faszinierte. So fertigten wir eine Listealler Ortschaften an und sortierten dann die mit den Namen derHeiligen aus; es blieben ca. 600 Namen übrig. Anschließendfolgte eine Runde, in denen wir die Orte mit einem faszinierendenRhythmus, Klang und Sinnbildern auswählten. Daraufhin haben wirein Spiel am Tisch mit den Namenskärtchen begonnen, wirverfassten Gedichte, Texte und Vorlagen. Erst wollten wir einen Filmanhand eines Gedichts machen, doch diese Idee verwarfen wir schnellwieder, denn wir wollten die Atmosphäre des Zufalls beibehalten.Wir ließen uns von den Worten und den Namen der Orteinspirieren und fuhren dann einfach mit einer kleinen Crew von fünfPersonen dorthin. Wir verbrachten an jedem Ort circa zwei Tage undwaren 40 Tage unterwegs. Am Ende hatten wir mehr als 50 StundenMaterial in DV und Super 8 und 10 Stunden Tonaufnahmen, aus denen wirden Soundtrack konzipierten. Sogar von der Militärpolizeibekamen wir einen Hubschrauber für die Luftaufnahmen zurVerfügung gestellt.
Wiewar der tägliche Drehprozess?
Cao:Es sind eigentlich zwei Filme in einem Projekt, das einen sehrlyrischen Hauptaspekt verfolgt. Ein Gedicht auf mehrere Städte,das auch unsere Freiheit beim Schaffensprozess widerspiegelt. InHeliodora z.B. sollten wir eigentlich mit einem Kulturvertretersprechen, der aber nicht auftauchte, weil ein Sturm das Leben in derStadt beeinträchtigt hatte. Wir gingen also am frühenMorgen zu einem Platz und warteten darauf, was passieren würde.Ein Mann bot mir an, die Schuhe zu putzen und wir filmten einfachdiese Szene. Dann kam eine Frau, die von ihm eine Zigarette schnorrenwollte. Er begann, anstatt ihr eine zu geben, zu beten. Ich denke,genau das macht das Konzept von ACIDENTE aus. Der Film begann wie einSpiel, es gab kleine Gedichte oder aber eine Aufgabe für dieProtagonisten. Es war ein Spiel über oder mit den Ortsnamen.Unsere Zusammenarbeit ergab sich aus der Herausforderung, etwas zuändern, ein Gegenkonzept zur Großstadt zu entwerfen.
Hierdas filmische „Gedicht“:
HELIODORA
VIRGEM DA LAPA
ESPERA FELIZ
JACINTO OLHOS D’ÁGUA
ENTRE FOLHAS
FERROS, PALMA, CALDAS
VAZANTE
PASSOS
PAI PEDRO ABRE CAMPO
FERVEDOURO DESCOBERTO
TIROS, TOMBOS, PLANURA
ÁGUAS VERMELHAS
DORES DE CAMPO
EnglischeÜbersetzung:
HELIODORA
VIRGINOF THE ROCK
HAPPYHOPE
HYACINTHWATERY EYES
BETWEENLEAVES
IRONS,PALMS, JUICES
LOWTIDE
TREADS
FATHERPETER OPEN(S) FIELD
UNCOVEREDEFERVESCENCE
SHOTS,STUMBLES, PLAIRIE
REDWATERS
ACHINGFIELDS
Texte: Ute Mader
Bild:Rabia.cl
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