Schon zu seinen Lebzeiten galt der in Buenos Aires geborene Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986) als Klassiker. Die Auszeichnung allerdings, nicht mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden zu sein –obwohl er zu den ständigen Anwärtern zählte- muss sich der Meister der lakonisch-eleganten Erzählkunst mit anderen literarischen Größen wie James Joyce oder Marcel Proust teilen. Sein Weltruhm hat den weltweiten Erfolgen lateinamerikanischer Autoren wie Gabriel García Márquez oder Carlos Fuentes erst den Weg geebnet, Borges’ eigentliche Leistung besteht aber in der Bereicherung und Erneuerung der spanischen Sprache.
Michel Foucault und Umberto Eco haben ihm in ihren Werken noch zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt, ebenso wie die Regisseure Nicolas Roeg und Jean Luc Godard. Borges Einfluss macht auch in Hollywood nicht halt. Analog zu der Wortschöpfung „kafkaesk“ die Werke ettikettiert, die dem literarischen Kosmos Franz Kafkas entstammen zu scheinen, ließe sich beispielsweise Bryan Singers „All the usual suspects“ (1995) am treffendsten als „borgesianisch“ beschreiben. Vor zwanzig Jahren starb der große argentinische Schriftsteller.
Mit wenigen Worten brachte er das ganze Universum in einer Streichholzschachtel unter. Er war der blinde Bibliothekar von Babel: wie kein anderer verkörperte er die Weltliteratur, spielerisch zitierte er die ganze Spannbreite von der „Edda“ über Edgar Allen Poe bis hin zum deutschen Expressionismus. Europäische, jüdische, arabische oder auch chinesische Literatur und Ideengeschichte inspirierten sein Werk. Er war zwar ein Weltbürger, der die letzten Jahre seines Lebens reisend verbrachte, doch blieb seine Heimat Argentinien, speziell die von ihm in zahlreichen Gedichten romantisch verklärte ewige Stadt Buenos Aires mit ihren Stadtvierteln, Tangotänzern und compadritos.
Seine Sehnsucht galt dem Süden, wo viele seiner labyrinthischen Geschichtenund Essays (bei denen es sich eigentlich um getarnte Erzählungen handelt) angesiedelt sind. „Süden“ ist eine Chiffre, die Borges ganzes Werk leitmotivisch durchzieht und nicht nur eine geographische Einordnung bedeutet; er steht bei Borges assoziativ für ein Unbehagen vor der Zivilisation, Schicksal, Einsamkeit, Mut und vor allem für die Welt der Gauchos. Oft wird die raue, barbarische Vergangenheit des Landes heraufbeschworen. Borges wäre selber gerne ein Gaucho gewesen, ein Mann der Tat, der im Zweikampf mutig sein Leben riskiert, ähnlich wie Martín Fierro aus dem gleichnamigem National- und Heldenepos Argentiniens oder wie Borges’ Alter Ego Juan Dahlmann, der Protagonist seiner berühmtesten Erzählung, die – wen wundert es - ebenfalls „Süden“ heißt. Verständlich ist daher auch seine Bewunderung für den Cowboy, das nordamerikanische Gegenstück des Gauchos.
Neben der Literatur war Borges’ zweite Liebe das Kino. Auch nachdem er nach einem Jahrzehnte dauernden Prozess langsamen Erblindens in seinem achtundfünfzigsten Lebensjahr sein Sehvermögen verloren hatte, besuchte er weiterhin Kinovorstellungen und ließ sich von Begleitern die Handlung schildern. Hollywood, so schwärmte er, habe der Menschheit das verloren gegangene Epos wiedergegeben. Seine Vorliebe gehörte dem klassischen Hollywoodfilm der Zeit der großen Studios, den Filmen Josef von Sternbergs und –natürlich- dem Western. In den angelsächsischen Sagas, bei Homer, in den Gangsterfilmen oder in den Mythen der Unterwelt von Buenos Aires erkannte er überall dieselben Motive: Tapferkeit und Kampf.
Als junger Schriftsteller veröffentlichte Borges zwischen 1929 und 1945 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften eine große Anzahl von Filmkritiken und Essays zu Aspekten des Kinos (dokumentiert sind diese in dem Buch „Borges im Kino“ von Hanns Zischler (1999).
Ohne Frage hat seine Affinität zum Kino sein Werk entscheidend beeinflusst, was besonders in seinem von der filmischen Montage geprägten Schreibstil deutlich wird. Dass Borges nebenbei auch Drehbücher verfasste, bleibt in seinem sonst von Hispanisten und Litearturwissenschaftlern akribisch aufgearbeiteten Gesamtwerk nahezu unbeachtet. Er war dabei trotz seiner Begeisterung für das Medium Film und seiner Sachkenntnis ein genialer Dilettant. Die gemeinsamen Drehbuchprojekte der Schriftstellerkollegen und Freunde Adolfo Bioy Casares und Jorge Luis Borges („Los orilleros“, „Les autres“ und„Invasión“) bestechen durch ihre Dialoge, allerdings mangelt es ihnenam plot, sie scheiterten daher auch an der Kinokasse.
Einige von Borges’ Erzählungen wurden dagegen erfolgreich verfilmt, darunter sein „Thema vom Verräter und vom Helden“, das Bernardo Bertolucci für sein Frühwerk „La strategia de la ragna“ („Die Strategie der Spinne,1969/70) inspirierte. Der ehemalige Passolini-Assistent und KP-Anhänger Bertolucci dekonstruiert in der zur politischen Parabel umgearbeiteten Geschichte den bürgerlich-antifaschistischen Mythos Italiens. Beschrieben wird der Versuch eines jungen Mannes, den Mord an Athos Magnani aufzuklären, seinem Vater, der 30 Jahre zuvor erschossen und seitdem als legendärer Widerstandskämpfer gefeiert wurde. Die Nachforschungen des Sohnes enthüllen, dass der Vater keinesfalls ein Held war. Aus Feigheit hatte dieser ein geplantes Attentat auf Mussolini verraten und wurde deshalb von seinen eigenen Mitverschworenen zum Tode verurteilt. Wäre aber der Verrat Athos Magnanis Publik gemacht worden, hätte dies der gemeinsamen Sache geschadet, seine Hinrichtung wurde als mysteriöse Ermordung inszeniert, die sich der Phantasie des Volkes einprägen und den Widerstand gegen die faschistische Regierung beschleunigen sollte.
Die literarische Vorlage ist im „unterdrückten und zähen“ Irland des 19.Jahrhunderts angesiedelt worden. Der Freiheitskämpfer Fergus Kilpatrick starb, wie sein Nachfahre feststellte, einen theatralen Heldentod. Er wurde einem vorgefertigten Drehbuch folgend ermordet, das Shakespeares Tragödien „Julius Caesar“ und „Macbeth“ nachahmte. „Daß die Geschichte die Geschichte kopiert haben sollte, war schon bestürzend genug; daß die Geschichte die Litearatur kopieren soll, ist unfaßbar...“ schaltet sich Borges als Kommentator in seine Erzählung ein.
Es ist aber noch komplexer: Borges orientiert sich an der filmischen Montagetechnik, Bertoluccis Film übernimmt den Duktus von Borges’ Erzählstil. Die Geschichte kopiert scheinbar die Geschichte, die Geschichte die Literatur, die Literatur kopiert das Kino, das Kino kopiert die Literatur: das Verwirrspiel über die Frage nach Fiktion oder Realität; Spiegelungen, eine Vielzahl von Bezügen überziehen die literarische Vorlage und noch einmal multipliziert den Film wie ein Netz. Bertoluccis „Strategie der Spinne“ ist keine werkgetreue Verfilmung von Borges „Thema vom Verräter und vom Helden,“ sie entstammt aber dem borgesianischen Geist. Der blinde Magier, wie Jorge Luis Borges auch ehrfürchtig genannt wird, wird zufrieden gewesen sein.
Borges’ komplette Filmographie (Originaldrehbücher, Adaptionen seiner Werke, Dokumentarfilme und fiktionale Filme über seine Person)
DÍAS DEL ODIO von Leopoldo Torre Nilsson (Argentinien 1954)
HOMBRE DE LA ESQUINA ROSADA von René Mugica (Argentinien 1962)
EMMA ZUNZ von Jesús Martínez León (Spanien, 1966)
LOS CONTRABANDISTAS von Hugo Santiago (Argentinien 1967)
LOS TAITAS von Hugo Santiago (Argentinien, 1968)
INVASION von Hugo Santiago (Argentinien 1968)
BORGES von André Camp und José Maria Berzosa (Dokumentarfilm, Frankreich 1969)
THE INNER WORLD OF JORGE LUIS BORGES von Harold Mantell (Dokumentarfilm, USA 1969)
LA STRATEGIA DE LA RAGNA von Bernardo Bertolucci (Italien 1969/70)
LES AUTRES von Hugo Santiago (Frankreich 1974)
LOS ORILLEROS von Ricardo Luna (Argentinien 1975)
EL MUERTE von Hector Olivera (Argentinien 1975)
GHAZ ALvon Massoud Kimia’I (Iran 1975)
EL SUR von Josí Luis Di Zeo (Argentinien 1976)
I PROBLEMI DI DON ISIDRO PARODI von Andrea Frezza (Fernsehserie, Italien 1978)
SPLITS von Leandro Katz (USA 1978)
BORGES PARA MILIONES von Ricardo Wulicher und Bernardo Kamin (Dokumentarfilm, Argentinien1978)
LA INTRUSA von Carlos Hugo Christiensen (Argentinien/Brasilien 1979)
BORGES AND I von David Wheatley (Großbritannien 1983)
TODAVÍA SIN NOMBRE von José J. Bakedano (Spanien 1986)
EL TRES DE COMPAS von Felipe Cazals (Mexiko 1986)
GOST von Aleksandr Kajdanovsky (UdSSR 1987)
GUERREROS Y CAUTIVAS von Edgardo Cozarinsky (Argentinien/Frankreich/Schweiz 1989)
LA OTRA HISTORIA DE ROSENDO JUÁREZ von Gerado Vera (Argentinien 1990)
LA INTRUSA von Jaime Chávarri (Spanien 1990)
LA OTRA HISTORIA DE ROSENDO JUÁREZ (Spanien 1990)
EL EVANGELIO SEGÚN MARCOS von Héctor Olivera (Argentinien 1991)
EMMA ZUNZ von Benoît Jacquot(Frankreich 1992)
EL SUR von Carlos Saura (Spanien 1992)
DEATH AND THE COMPASS von Alex Cox (Großbritannien/Mexiko/Japan 1992)
PORTRAIT DE BORGES EN ALEPH von Edgardo Cozarinnsky (Dokumentarfilm,Argentinien 1992)
ZUNZ von Alejandro Angelini (Argentinien 1997)
UN AMOR DE BORGES (Argentinien 1999)
EL AMOR Y EL ESPANTO (Argentinien 2000)
HARTO DE BORGES von Eduardo Montes Bradley (Dokumentarfilm, Argentinien 2000)
LOS LIBROS Y LA NOCHE von Tristán Bauer (Argentinien 2000)
Text: Sven Pötting
Bild: cinenacional
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