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No! von Pablo Larraín auf DVD

40 Jahre nach dem Militärputsch in Chile an dem "anderen 11. September" erinnert Pablo Larraín an das Ende der Pinochet-Diktatur. Sein ausgezeichneter Film NO!, der auch für den OSCAR nominiert war, ist nun auf DVD erhältlich.

Es ist noch gar nicht so lange her (Juni 2009), als Marcela Escobar in der konservativen chilenischen Tageszeitung El Mercurio über eine neue Generation von Filmemachern berichtete und ihrem Artikel den Titel „La nueva tribu del cine chileno“ gab – „der neue Stamm des chilenischen Kinos.“ Es hört sich so an, als habe die Autorin eine bislang unbekannte Ethnie entdeckt und wolle dem Leser dieses exotische Kuriosum näher bringen.
Das klingt zuerst einmal befremdlich, ist aber nicht aus der Luft gegriffen. Es gibt in Chile zwei Kino-Epochen. Jene vor und die nach Pinochet. Die erste Epoche wurde durch Filmemacher wie Miguel Littín oder Raúl Ruiz geprägt – nach dem Putsch am 11. September 1973, dem „anderen 9/11“, gab es zwar noch weiterhin chilenische Filmproduktionen, diese entstanden aber beinahe komplett im Exil. 
Bestes Beispiel dafür ist LA BATALLA DE CHILE das erste große Werk des Regisseurs Patricio Guzmán. Es war als panoramischer Blick auf Salvador Allendes Präsidentschaft ab 1970 geplant. Dann kam der Putsch. Erst auf Kuba konnte Guzmán seinen epischen, viereinhalbstündigen Dokumentarfilm fertigstellen. Er wollte einen Film über den Aufbruch in eine historische Epoche in seiner Heimat drehen, schuf aber zwangsläufig eine Art Requiem, das den Verlust der Unschuld seines Heimatlandes betrauert.
In Chile selbst wurden bis auf wenige Aufnahmen für viele Jahre vor allem Werbespots produziert. Vielleicht nur in Paraguay wurde eine Filmindustrie durch eine Diktatur derart gelähmt und in die Knie gezwungen. Die zweite Phase: der Neuaufbau der Filmindustrie, die Schaffung von Strukturen, da wo nur Ruinen übriggeblieben waren, begann in den 1990er Jahren. 1994 wurde erstmals wieder eine Filmschule in Chile eröffnet, 1999 wurde mit dem Ley del Cine ein Filmfördergesetz geschaffen, 2003 ein Filmförderfond. Bis die ganzen Maßnahmen erste Resultate zeigten, mussten verständlicherweise noch ein paar Jahre vergehen. 
Natürlich liegt auch über dem Post-Diktatur-Kino der Schatten der Vergangenheit. Dokumentationen wie LA CIUDAD DE LOS FOTÓGRAFOS (Sebastián Moreno, 2007), EL JUEZ Y EL GENERAL (Elizabeth Farnsworth/ Patricio Lanfranco, 2008) oder EL DIARIO DE AGUSTÍN (Ignacio Agüero, 2008) bilden Räume der Reflexion, durch die es dem chilenischen Publikum ermöglicht bzw. vereinfacht werden soll, der Geschichte des eigenen Landes ins Auge zu blicken. Die Filme Patricio Guzmáns seit 1990 (bspw. NOSTALGIA DE LA LUZ (2010)) sind eine Fortführung seiner Exilfilme, sie bilden ein kohärentes Oeuvre, ein Archiv der Geschichte und der Gegengeschichte seiner Heimat. 
Auch im fiktionalen Film ist die Vergangenheitsbewältigung ein wichtiges und wiederkehrendes Topos. Einer der wenigen chilenischen Filme, die es in Deutschland auch in die Kinos geschafft haben, ist Andrés Woods MACHUCA, MEIN FREUND (2004), der die sozialen Konflikte der Endphase der Regierung Allende, die Spaltung des Landes und die Repressionen unmittelbar nach dem Putsch zum Thema hat. Erzähl wird dies alles aus der Perspektive eines Teenagers, der das gleiche Alter hatte, wie der Regisseur selbst im September 1973.
Etwas mehr als 20 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie tragen die oben genannten Maßnahmen zur Wiederbelebung der chilenischen Filmindustrie erste Früchte. Pablo Larraíns Film TONY MANERO wurde 2008 im Rahmen der "Quinzaine des Réalisateurs" beim Filmfestival von Cannes uraufgeführt, Sebastián Lelios NAVIDAD wurde ein Jahr später die selbe Ehre zuteil. Sebastián Silva gewann für LA NANA 2009 als erster Chilene überhaupt den Jurypreis des Sundance-Festivals, Alicia Scherson hat mittlerweile international schon so einen großen Namen, dass sie den LUMPENROMAN, des – und hier ist das inflationär verwendete Wort tatsächlich auch einmal angebracht – ‚Kultautors’,  ihres Landsmannes Roberto Bolaño für das Kino adaptieren durfte (die Verfilmung kommt unter dem Titel IL FUTURO voraussichtlich im Herbst 2013 in die Kinos). Laut Florian Borchmeyer ist nicht von dem Aufbruch einer neuen Generation chilenischer Filmemacher zu sprechen, sondern von einer „Explosion“ (Zitiert nach Film-Konzepte 18. Junges Kino in Lateinamerika. Hrsg. von Thomas Koebner, Fabienne Liptay und Peter W. Schulze, S. 66). Diese Bezeichnung bezieht sich bei ihm nicht alleine auf die Qualität, sondern auch auf die Quantität. Allein 2008 entstanden in Chile 25 abendfüllende Spielfilme, gut ein Drittel mehr als in den gesamten 1970er und 1980er Jahren. Die Tendenz ist langsam ansteigend. Auffällig ist, dass es sich bei den Hoffnungsträgern der neuen Generation von Regisseuren – durchschnittliches Alter Mitte 30, sie haben allesamt schon zwei, drei oder mehr Filme gedreht – um keine Einzelgänger handelt. Sie unterstützen sich gegenseitig. Pablo Larraín und sein Bruder Juan de Diós Larraín produzierten mit ihrer Firma „Fábula“ beispielsweise den viel gelobten und auf internationaler Festivalstournee häufig gezeigten JOVEN Y ALOCADA (Marialy Rivas, 2012)  wie auch den bei der diesjährigen Berlinale ausgezeichneten GLORIA (Sebastián Lelio, 2013). 
In lateinamerikanischen Ländern kommt es nicht häufig vor, dass Filme aus den Nachbarländern außerhalb von Festivals gezeigt werden. Aber auch in Argentinien wurde man auf das 'Nuevo Cine Chileno' aufmerksam. Die Gastkuratorin Antonella Costa veranstaltete 2011 in der renommierten Cinemathek des Museums für lateinamerikanische Kunst, des MALBA, in Buenos Aires, eine Werkschau mit repräsentativen Filmen, einem Querschnitt durch das aktuelle chilenische Kino. Die eigentlich als Schauspielerin arbeitende Costa (MOTORCYCLE DIARIES, GARAGE OLIMPO/JUNTA) schreibt im Programmheft, sie sei davon beeindruckt, auf welche Art und Weise (auch mit Humor) diese Filme die Wunden in der Gesellschaft, welche die Diktatur geschlagen haben, thematisieren würden. Sie würde viele Gemeinsamkeiten zum argentinischen Kino finden – dem von Kritikern und Festivalleitern viel gelobten 'Nuevo Cine Agentin', aber sie sehe auch "faszinierende und inspirierende Unterschiede.“ 
Großer Unterschied ist, dass es in Argentinien Konsens und breite Zustimmung in Bezug auf die Vergangenheitspolitik der Regierung gibt (Amnestien werden aufgehoben, die Täter der Militärdiktatur von 1976-1983 kommen wieder vor Gericht), in Chile nicht. Pinochet starb, ohne für die unter seiner Regierung verübten Verbrechen verurteilt zu werden: "between 1973 and 1988 General Augusto Pinochet and his collaborators … waged and won, and then waged and lost, a battle to win Chilean hearts and minds” schreibt Steve J. Stern. Dies hat Auswirkungen bis heute. Viele Menschen die sich noch an die sozialen Konflikte unter der Regierung Allende erinnern, glauben, Pinochet habe das Land vor dem Ruin und vor dem Marxismus gerettet. Dies spaltet das Land in Anhänger und Gegner des Diktators.
Diese Fronten lösen sich aber langsam auf.
Seit einigen Jahren gibt es Proteste in Chile gegen das weitgehend privatisierte Bildungssystem durch das Bildung eine „private Investition“ und ein „Konsumgut“ geworden sind. Viele der Studenten, die 1988 oder später geboren wurden, sehen sich immer weniger von den dominanten politischen Parteien repräsentiert. Obwohl es sich um Proteste gegen die Auswirkungen der neoliberalen Politik unter Pinochet handelt, haben sie die Diktatur nicht mehr oder nicht bewusst miterlebt. Die Frage nach dem „Anhänger“ oder „Gegner“, dem „Dafür“ oder „Dagegen“ hat in ihrer Generation bereits an Bedeutung verloren hat und wird immer weiter an Bedeutung verlieren. Ihr Blick auf alles, was mit dem Thema Pinochet zu tun hat, ist wesentlich unideologischer und entspannter als der ihrer Elterngeneration.
Diejenigen aber, die noch einer älteren Generation entstammen, sitzen in den Fernsehsendern in wichtigen Positionen oder in den Zeitungsredaktionen. Zudem ist die Medienlandschaft in Chile weitgehend konservativ ausgerichtet. Die Bewertung von Pablo Larraíns Filmen innerhalb Chiles muss in diesem Kontext verstanden werden.
Pablo Larraíns Werke, die er vor NO! drehte, waren keine leichte Kost. TONY MANERO ist Ende der 70er Jahre angesiedelt. 1978-1979 lief SATURDAY NIGHT FEVER ununterbrochen für 8 Monate in den Kinos von Santiago de Chile. In dieser Zeit leitet Protagonist Raúl leitet eine Tanzgruppe und ist davon besessen, einen John Travolta-Double-Wettbewerb (Tony Manero ist der Name des Protagonisten in SATURDAY NIGHT FEVER, der von John Travolta dargestellt wird) zu gewinnen. Er agiert dabei äußerst skrupellos. Weil die Militärs um ihn herum ungestraft täglich morden, sieht er sich dazu berechtigt, das Selbe zu tun, um seine Ziele zu erreichen. TONY MANERO (2008) ist ein fesselnder Film, aber auch ein zynisches Werk, das aneckt. POST MORTEM (2011) hat den gleichen Tonfall.
 
Unter den Kritikern steht Larraín nicht nur deswegen unter besonderer Beobachtung. Der Vater des Regisseurs war Präsident des chilenischen Senats und Vorsitzender der bedeutendsten konservativen Partei des Landes, die Pinochet bis zuletzt unterstützte. Seine Mutter entstammt der Familie Matte, dem vermutlich reichsten Clan in Chile, dem von Menschenrechtsgruppierungen vorgeworfen wird, durch brutale Maßnahmen der Militärregierung (etwa der Vertreibung von Mapuche-Indianern von ihrem angestammten Land und dem Verkauf von dort aufgefundenen natürlichen Ressourcen) profitiert zu haben. Ein Werk dieses Regisseurs über die Pinochet-Zeit muss also per se provokativ sein.
Larraín versucht dieser Diskussion aus dem Weg zu gehen. „I just make movies” sagt er in einem Interview mit der NEW YORK TIMES (8.2.2013) „I’m not the official version of anything. I’m just an artist who does what he wants, what feels best. And if people think that Lincoln is Daniel Day-Lewis, it’s not going to be my problem or Steven Spielberg’s problem.” Entkommen kann er der Diskussion aber nicht.
Worum geht es in NO!, dem Film, der für Chile um den begehrten OSCAR konkurrierte?  
Proteste im In-und Ausland gegen die Diktatur nehmen in den 1980er Jahren  zu. Weder die Massenproteste, noch die vereinzelten Versuche von gewaltsamen Umstürzen innerhalb Chiles konnten jedoch Pinochet stürzen. Die einzige Möglichkeit, Änderungen zu erreichen, bot ein Plebiszit von 1988, das der Diktator auf internationalen Druck zulassen musste.
Die Opposition war skeptisch. Man befürchtete Betrug bei der Auszählung der Stimmen. Bei einer Niederlage hätte man dazu beigetragen, das Regime zu legitimieren, bei einem Sieg musste man ebenfalls in der Logik des Regimes bleiben, was einer Transition von oben gleichkam. Im Februar 1988 wurde die „Concertación de Partidos por el NO“ als Wahlbündnis der Opposition gegründet. Das Ziel war es, dass NO gewinne, die Antwort NEIN auf die Frage, ob die Amtszeit von Pinochet verlängert werden solle. Das Bündnis sollte das erreichen, was sonst, keine oppositionelle Aktivität zwischen 1973 und 1988 bewirkt hatte. Trotz aller Hindernisse, trotz der Behinderung der NO-Aktivisten, unterlag der siegessichere Diktator, da sich 55 Prozent gegen die Verlängerung der Amtszeit aussprachen. Somit war der Weg für Wahlen im Jahre 1989 geebnet und das Ende der Diktatur wurde absehbar. 
Pablo Larraíns Film setzt in der Situation ein, in der alle Prognosen den Sieg Pinochets, der Staat und Medien kontrolliert. In dieser fast aussichtlosen Situation engagiert die Opposition -  die Vertreter eines Bündnisses, die zwar alle den Wunsch haben, Pinochet zu stürzen, aber sonst politisch unterschiedliche Ziele vertreten und sonst nur wenig gemein haben – den jungen, coolen Werbefachmann René Saavedra als Marketingberater. René ist der Sohn eines Politikers, der 1973 nach Mexiko flüchten musste. 15 Minuten TV-Sendezeit stehen der Opposition über mehrere Wochen täglich zur Verfügung. Das ist nicht wenig, zumal auch die finanziellen Mittel knapp sind und die Produktion unter immensen Zeitdruck steht. René, dessen Ehrgeiz, auch durch den Gegenwind aus den eigenen Reihen geweckt wurde, präsentiert eine überraschende, eine bunte und freche, aber auch positive, zukunftsgerichtete und hoffnungsfrohe Kampagne welche die Wähler als Zielgruppe betrachtet. Gezeigt wird vor allem ein Chile ohne Pinochet, das aus der Erstarrung, die das Land seit 1973 befallen hat, erwacht ist. René kann die Zielgruppe dazu überzeugen NO! No más– adiós Sr. Pinochet zu sagen.
NO! mutet nicht so zynisch an, wie die anderen Teile von Larraíns Pinochet-Trilogie (TONY MANERO, POST MORTEM). Sein Film basiert auf dem Theaterstück REFERENDUM von Antonio Skármeta (IL POSTINO), das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit dem Komiker Pedro Peirano (LA NANA). Es ist ein ‚gut verdaulicher Film’ über die Diktatur, er ist aber niemals seicht, Humor wechselt sich mit dramatischen Szenen ab. Im Ausland ist der Film überwiegend positiv aufgenommen worden, in Chile selbst gab es viel Kritik. Wie schon erwähnt, ist diese Kritik nicht überraschend und es ist auch nicht überraschend von welcher Seite sie kommt. Von einem jüngeren Publikum ist der Film positiv rezipiert worden. Für sie ist Pinochet, den sie nur aus Fernsehbildern kennen, mehr eine Witzfigur. Als diese wird er im  Film auch präsentiert (wo er sowohl von Gegnern als auch von Anhängern immer wieder als Pinocho (Pinocchio) bezeichnet wird).
Die kritischen Stimmen gegenüber Larraín kommen nicht nur aus dem konservativen Lager, sondern auch von denjenigen, die damals selbst an der Kampagne mitgearbeitet haben, von der damaligen Opposition gegen Pinochet. Der amtierende Präsident Sebastián Piñeira ist der erste rechtsgerichtete Staatschef seit dem Ende der Diktatur, unter seiner konservativ-liberalen Regierung fühlen sie sich in die Ecke gedrängt, befürchten, dass ihre historischen Verdienste umgedeutet werden könnten. Mit Furor kritisieren sie daher „Ungenauigkeiten“, beklagen, dass es eine Einzelperson, welche die Kampagne geprägt habe, so niemals gegeben hat. Es habe auch nichts mit der Realität zu tun, dass Pinochet das Plebiszit wegen eines gut gemachten Logos und eines eingängigen Jingles verloren habe, ließ Francisco Vidal, Minister unter zwei (linken) Regierungen per Twitter verbreiten. „The idea that, after 15 years of dictatorship in a politically sophisticated country with strong union and student movements, solid political parties and an active human rights movement, all of a sudden this Mexican advertising guy arrives on his skateboard and says, ‘Gentlemen, this is what you have to do,’ that is a caricature” protestiert Genaro Arriagada, der an der NO-Kampagne mitwirkte (zitiert nach NY Times, ebd.). Verrät sich Larraíns Herkunft aus einer konservativen Familie dadurch, dass der Regisseur einen heroischen Außenseiter zeigt, statt die Anstrengungen eines Kollektivs, bestehend aus einem Bündnis von Gemäßigten, Linken und Zentrumspolitikern, wie Matías Sánchez in El Ciudadano behauptet? Nein, das muss nicht so sein. Indem der Autor immer wieder den kompletten Namen Larraíns wiederholt und seinen zweiten Nachnamen MATTA immer wieder in Großbuchstaben schreibt, bekommt man den Eindruck, den Autor wolle dem Regisseur das Recht absprechen, einen Film über diese Thematik zu drehen. 
Man kann den Kampf über die Deutungshoheit über die eigene Geschichte nachvollziehen. Aber Larraín behauptet auch  nicht: „So ist es gewesen." Es gibt auch keine Hinweise, dass er ein Revanchist ist. Man muss ihm künstlerische Freiheit zugestehen. NO! wie auch seine anderen Filme geben eine Stimmung wieder, eine Anmutung der Zeit in der sie spielen. Nach dem sozialistischen Projekt von Salvador Allende, hielt mit Pinochet, wie schon erwähnt, das neoliberale System in Chile Einzug, das von einer Technokratengruppe implementiert wurde. Eine Utopie wurde gewaltsam beendet. Die so genannten Chicago Boys räumten den Marktkräften oberste Priorität ein und sahen diese als primäre gesellschaftliche Regelungsmechanismen an. Die autoritäre Regierung sicherte die Rahmenbedingungen für das Wirken der Marktkräfte und ordnete ohne Rücksichtnahme die Beziehung zwischen Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und den Individuen neu. Dennoch, nahm der wirtschaftspolitische Kurs im Laufe der Jahre immer wieder Wendungen, wurde angepasst, war wenig kohärent und bisweilen sogar opportunistisch
Diese Logik des Marktes wird überspitzt dargestellt, denn mit ihr wird Pinochet im Film gestürzt. Aber es gibt Kontinuitäten über die Rückkehr zur Demokratie hinaus, bis in die Gegenwart. Dies ist für viele bis heute sehr unbequem. Das System lebt weiter, in Figur des Chefs von René, der sich erst den Militärs andient und dann das sinkende Schiff verlässt. Er gibt dem Opportunismus ein Gesicht. Mit dem selben Gewinnerlächeln schmeichelt er Pinochet, droht René und besticht Militärs, um eine Mitarbeiterin (Renés Ex-Frau) vor Folter zu retten. Dargestellt wird er von Alfredo Castro, Pablo Larraíns langjährigem Weggefährten, der auch die Titelrolle in TONY MANERO übernahm. 
Es gibt im Werk von Larraín Kontinuitäten von TONY MANERO bis NO! In einem Interview zu TONY MANERO sagt der Regisseur: "In 1976 Pinochet hired a few young people who were studying at Chicago University, with all these new capitalist systems that they were learning over there with Milton Friedman, and he put these Chicago Boyas into the government. So Chile became an open-merket economy and, wehen he did that, a lot of things changed socially. We began to import a lot of stuff, cultural and economic. And that’s what the film is about. The Pinochet regime did enormous damage to our folk traditions. Pinochet was very ignorant (Zitiert nach: Demetrios Matheou. NEW SOUTH AMERICAN CINEMA, S. 366).“ Die Kritik daran wir in Person des mordenden John Travolta-Doubles geäußert. 
In NO! steht René zwar zu den Zielen der Opposition, ist aber zunächst politisch uninformiert und weitgehend desinteressiert. Er profitierte sogar von der wirtschaftlichen Stabilität und blieb trotz seiner Herkunft von den Geheimdiensten unbehelligt. Seine Ex-Frau, die immer wieder Kritik an seiner Kampagne äußert, selber auf die Straße geht und Gesundheit und leben für die Freiheit riskiert, ist sein Korrektiv. Sie repräsentiert auch die Menschrechtsbewegung, die die Voraussetzung dafür schuf, dass das Plebiszit stattfinden konnte und dass die Bevölkerung wählen ging.
Was auch für Aufsehen sorgte: In NO! integriert Larraín die originalen Spots und Sendungen der Referendumskampagnen. Damit nicht deutlich wird, wo Dokument und wo Fiktion aufhört, wurde der Film komplett mit den gleichen Kameras gedreht, wie die Spots. Dafür trieb das Team analoge UMATIC-Kameras auf, was allerdings erheblich schwieriger war, als erwartet. Aus zwanzig Kameras, die in den USA gefunden wurden, konnten vier funktionstüchtige Einheiten zusammengebaut werden, zwei der Kameras überlebten Dreh nur. Die Auflösungen ist gering, bei Gegenlichtaufnahmen ist erst einmal kaum etwas zu erkennen, vieles wirkt wie found footage, das den Laufe der Zeit nur mehr oder weniger gut überstanden hat. Man braucht eine Weile, um sich an die Ästhetik zu gewöhnen. Dann erkennt man aber die ästhetische Entscheidung als genialen Schachzug an. Dieser Wagemut ist nicht neu: In TONY MANERO arbeitete er mit 16mm-Filmmaterial, das beim Dreh das Mindesthaltbarkeitsdatum schon überschritten hatte und schuf damit einen Vintage-Look, der dem Setting durchaus angemessen war.
Vielleicht sind es die stilistischen Experimente des Regisseurs, die dazu beitragen, dass befürchtet wird, dass NO! als dokumentarische Fiktion oder authentischer Thriller verstanden werden könnte. 
Larraín und der großartige Schauspieler Gael García Bernal, der zudem als einer der wenigen lateinamerikanischen, aber global bekannten Stars als Publikumsmagnet für den Film wirken könnte, betonen die Aktualität ihres Films, ziehen Parallelen zu den Vorgängen in der arabischen Welt.
Obwohl noch die  Ernennung des Christdemokraten Patricio Aylwin zum Präsidenten im Dezember 1989 gezeigt wird,  bleibt eher der skeptische mit Wut gemischte Blick Renés in Erinnerung. Der Diktator hatte aber noch mehr als ein Jahr Zeit, um der Übergangsphase und der bevorstehenden Demokratisierung seinen Stempel aufzudrücken. Und dies Tat er auch. Auch in der Demokratie sollte der Senat nur in Teilen direkt wählbar sein, der wirtschaftspolitische Kurs wurde beibehalten etc. Strukturen wurden geschaffen, welche die Demokratisierung Chiles ermöglichten aber einen klaren Bruch mit der Diktatur verhinderten. Selbst die Verfassung von 1980 ist in Grundzügen noch in Kraft. Pinochet blieb noch bis 1998 Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Dies war der Preis für die „nationale Aussöhnung.“ Triumph und Verbitterung darüber vermischen sich. Die alten Strukturen, die eigentlich niedergerissen werden sollten, bilden die Grundlage für die neue Ordnung. Auch das verbindet NO! mit den aktuell stattfindenden Prozessen in den arabischen Ländern. Insofern haben Gael García Bernal und Pablo Larraín mit ihren Analogien recht. 
 
NO! Chile 2012. 113 Minuten, Sprachen (auf der DVD: spanisch und deutsch, optional deutsche und englische Untertitel.
Anbieter: Piffl Medien/Good Movies
Das Bonusmaterial enthält ein Making-of, ein Interview mit dem Regisseur und zehn Originalclips der NO!-Kampagne, die auch in den Film Eingang fanden, sowie ein 12-seitiges Booklet. 

Sven Pötting

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